Mensch blickt durch Lupe auf Computer-Bildschirm - Symbolbild für die Kategroei Analysen

IB-Aktivist Martin Sellner und das Projekt "GegenUni"

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„Die Aufgabe der Organisation und Theoriebildung, die aus unzufriedenen Massen erst politische Potentiale macht, kann bis auf Ausnahmen nur von einer (Bildungs-)Elite geleistet werden. Diese Erkenntnis Lenins verschärft sich bei Gramsci“.

Mit dieser Äußerung rezipiert nicht etwa ein Linksextremist den russischen Revolutionär Wladimir I. Uljanow (Lenin) und den marxistischen Kulturphilosophen Antonio Gramsci, sondern ein maßgeblicher Rechtsextremist: Martin Sellner, ein führender Kopf der Identitären Bewegung (IB) bzw. der Neuen Rechten. Das Zitat stammt aus seinem Beitrag „Der Verrat der Intellektuellen und die Gegenuni“, der am 25. Oktober 2021 in der Zeitschrift Sezession erschien. Zusammen mit mehreren Buch- und Schriftenreihen wird diese Publikation vom Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegeben, welches das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als rechtsextremistischen Verdachtsfall im Kontext der Neuen Rechten führt. Das BfV kommt zu dem Schluss: „Das IfS wirkt auf breite Kreise der Neuen Rechten und nimmt eine diskursbestimmende Rolle innerhalb dieses Spektrums ein“.

Die Neue Rechte ein Katalysator für Gewalt und Radikalisierung

Fragte der Soziologe und Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber vor zwei Jahren in Bezug auf die Neue Rechte „Wer oder was steckt dahinter?“, so gibt das BfV hierauf im Verfassungsschutzbericht 2020 erstmals eine ausführliche Antwort aus Sicht einer Behörde, die als Frühwarnsystem zum Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung fungiert. Dass es wichtig ist, sich intensiv mit dem Phänomen Neue Rechte zu beschäftigen, bestätigte sich, als Anfang Juli 2021 in Frankfurt am Main im Internet die „GegenUni ‒ Die rechte Digitalakademie“ startete.

Bei der öffentlichen Vorstellung des Verfassungsschutzberichts 2020 hatte der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, zwei Wochen zuvor darauf hingewiesen, dass bundesweit 40 Prozent der Rechtsextremisten gewaltorientiert sind: Rechtsextremistische Attentate seien das

„Resultat einer Lageverschärfung, die hervorgerufen wird durch die Vernetzungen diverser Akteure und durch die enthemmte Sprache und Hetze im Internet wie in der Realwelt“.

Dabei bezog sich Haldenwang vor allem auf die Neue Rechte:

„Ihre Gruppierungen, Einzelpersonen und Organisationen bilden ein informelles Netzwerk, in dem rechtsextremistische bis rechtskonservative Kräfte zusammenwirken. Sie wollen antiliberale und antidemokratische Positionen in Gesellschaft und Politik durchsetzen und treiben einen Abbau von ideologischen Tabuzonen voran. Im Ergebnis befeuern sie Gewalt und Radikalisierung – häufig gibt es ja auch personelle Überschneidungen in erwiesen extremistische Gruppen hinein“.

Was das Befeuern von „Gewalt und Radikalisierung“ betrifft, präsentiert sich die GegenUni im Internet scheinbar harmlos: akademisch-intellektuell, modern und ansprechend in der optischen Aufmachung, diskursorientiert und gleichsam fern von rechtsextremistischer (verbaler) Gewalt. Vor diesem Hintergrund ist im Anschluss an Armin Pfahl-Traughber zu fragen: „Welche Ziele verfolgt die GegenUni?“ und „Auf welcher theoretischen Basis beruht sie?“ Hierzu geben die Protagonisten selbst, das heißt die GegenUni im Internet und Martin Sellner in der Zeitschrift Sezession, verblüffend freimütige Antworten.

„Einheitliche Weltsicht“ und „verbindliche Theorie“

In der Selbstdarstellung „Über uns“ erklärt die GegenUni, dass das „rechte Lager“ vor einer „schwerwiegenden Aufgabe“ stehe: Parteien wie die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und die Alternative für Deutschland (AfD) hätten in den zurückliegenden zehn Jahren Protestwähler gewonnen und Sitze in den Parlamenten errungen, während sich gleichzeitig „patriotischer Protest immer offener auf der Straße“ artikuliere. „Diesen Eckpfeilern der patriotischen Bewegung“ fehle jedoch ein „verbindendes Dach in Form einer einheitlichen Weltsicht und einer verbindlichen Theorie“ (Hervorhebung im Original), wobei es diesen Mangel zu beheben gelte.

Die Abhilfe soll, so die GegenUni, darin bestehen, die „junge, rechte Intelligenz“ aus ihren „zerstreuten Nischen“ zu holen und diesen „jungen, gefährlichen Denkern“ eine Möglichkeit zur Verbreitung ihrer Ideen zu eröffnen. Die Gegner des „rechten Lagers“ seien stark, weil sie die „ideologische Überlegenheit“ besäßen:

„Erst wenn Rechte die ideologische Hoheit für sich erlangen, kann es eine wirkliche politische Veränderung geben“. (Hervorhebung im Original.)

Daher sei die GegenUni mit folgender Absicht gegründet worden:

„Konservativen und Patrioten qualitativ hochwertige Theoriearbeit zugänglich zu machen. Rechte Intellektuelle halten die Fahne hoch und die rechte Theorie am Leben. Doch findet dies selbstverständlich nicht an den regulären Universitäten statt, die fest in linker und liberaler Hand sind. Dieser Zustand ist nicht länger hinnehmbar. Die Aufgabe unserer Generation ist, die metapolitische Dominanz von Links zu brechen“.

In seinem 2017 in zweiter Auflage im Verlag Antaios (rechtsextremistischer Verdachtsfall beim BfV) erschienenen Buch „Kontrakultur“ definiert der IB-Angehörige Mario Alexander Müller den im Spektrum der Neuen Rechten äußerst wichtigen Begriff „Metapolitik“ wie folgt:

„Gramsci hatte erkannt, daß die wahre Macht in westlichen Demokratien nicht in den Händen der politischen Institutionen und ihrer Vertreter liegt. Vielmehr können Polizei, Politiker und Militärs nicht ohne das unsichtbare Gravitationszentrum der Macht handeln: die kulturelle Hegemonie. [...] Die von den Medien geprägte öffentliche Meinung bildet den Denk- und Handlungsrahmen der Politik. Sie bestimmt das sogenannte Overton window, das Fenster öffentlich vertretbarer Ideen und Meinungen. Als herrschende Ideologie legitimiert diese kulturelle Macht die eigentliche politische Macht und verleiht ihr notwendige Autorität zum Herrschen. [...] Bevor eine Festung Europa errichtet werden kann, muß zunächst die Festung der Political correctness fallen; bevor politische Maßnahmen verwirklicht werden können, müssen sie in der öffentlichen Meinung auf breite Akzeptanz stoßen“. (Schreibweise wie im Original.)

Die Ziele der GegenUni wurden noch deutlicher, als im März 2022 ein „Dozent“ in einem Internetvideo das „Lernangebot“ für das Sommersemester“ als Alternative bzw. „dissidentes Programm“ zum „akademischen Mainstream“ vorstellte. Dabei hob er auf drei „besonders wichtige“ und „repräsentative“ Kurse ab: „Die Konservative Revolution“, „Elitenwechsel nach 1945“ und „Geschichte der 68er“:

„An normalen Universitäten lernt man über die Konservative Revolution meistens nur sehr verkürzte [...] Desinformation, teilweise einfach nur Halbwahrheiten, dass [sie] eine ausschließliche Vorgängerbewegung des NS [i.e. Nationalsozialismus] wäre und Ähnliches. Wir [...] zeigen, wo die geistesgeschichtliche Entwicklung in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren sich hin entwickelt hat und sich hätte auch hin entwickeln können, wenn nicht, und da setzt unser zweites Seminar an, [...] zur Gründungsphase der Bundesrepublik ein Elitenwechsel stattgefunden hätte, [...] wie eine Umerziehung auch im geistigen Bereich impliziert und vorangetrieben wurde von den Westalliierten und welche Auswirkungen dies eben darauf hatte, dass wir heute in Deutschland da stehen, wo wir nun einmal stehen“.

Höchst aufschlussreich ist die Formulierung „Elitenwechsel nach 1945“. Allein sie zeigt, dass die GegenUni bewährten wissenschaftlichen Standards nicht genügt und typisch rechtsextremistische Denkmuster verbreitet, um die Deutungshoheit über bestimmte Begriffe („Elitenwechsel“, „Umerziehung“) und die mit ihnen verknüpften Inhalte zu erreichen. So erläuterte Prof. Dr. Sylvia Veit, Leiterin des Forschungsprojekts „Neue Eliten – etabliertes Personal? (Dis-)Kontinuitäten deutscher Ministerien in Systemtransformationen“ der Universität Kassel, im April 2021, dass man nur sehr bedingt von einer „unbelasteten bundesdeutschen Elite nach dem Krieg“ sprechen könne – ein Befund, der Standard in der Geschichtswissenschaft ist. Dabei bezog sich Sylvia Veit auf die Studie „Die Politsch-Administrative Elite der BRD unter Konrad Adenauer (1949-1963):

„Unsere Ergebnisse bestätigen, dass die junge Bundesrepublik sich in beträchtlichen Teilen auf ein politisches und administratives Spitzenpersonal stützte, das sich zuvor mit dem Dritten Reich arrangiert hatte [...]. Weder war es so, dass bruchlos überzeugte Nationalsozialisten in den demokratischen Institutionen weiterarbeiteten; genauso wenig lässt sich aber sagen, dass ein Neustart mit Personal unternommen wurde, das aus dem Widerstand gegen den Faschismus kam“.

Nationalsozialistische Blaupause

Ähnlich wie die GegenUni betont auch Martin Sellner die Bedeutung von Intellektuellen und Universitäten als „Quelle aller Definitionsmacht“ in Politik und Gesellschaft im „Kampf um den geistigen Raum der Nation“, also die „Deutungshoheit im vorpolitischen Raum zur Erlangung und Festigung der realen politischen Macht im parlamentarischen Bereich“ (Verfassungsschutzbericht 2020). Dabei macht Sellner zu Beginn seines Beitrags in der Sezession auf Folgendes aufmerksam:

„Lange vor den Erfolgen der NSDAP [i. e. der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei] hatte der Nationalsozialistische Studentenbund bereits die Universitäten in der Hand. Im Mai 1928 erreichte die NSDAP gerade einmal 2,6% der Stimmen, während der NSDStB 1929 bereits 19,5% und im Jahr 1930 34,4% erhielt. Die Ergebnisse unter den Studenten waren im Schnitt doppelt so hoch wie unter der Restbevölkerung. 1930 stellte die NS-Studentenschaft an elf Hochschulen die absolute Mehrheit und an zwölf Hochschulen die stärkste Fraktion. 1931 kam es sogar zu einem reichsweiten AstA-Wahlergebnis [AstA = Allgemeiner Studentenausschuss] von 44,4%. Auch die marxistische Rebellion in Rußland wurde, wie Lenin zu berichten weiß, von jungen Akademikern getragen, die im ,Honigmond‘ des russischen Marxismus dessen Theorien popularisierten“.

Solches in einem Artikel eines Protagonisten der Neuen Rechten zu lesen, überrascht: Üblicherweise grenzt sich die Neue Rechte von der „alten“ (auch historischen nationalsozialistischen) Rechten ab, um vor allem in der Öffentlichkeit nicht mit dem verbrecherisch-totalitären Nationalsozialismus in Verbindung gebracht zu werden. So heißt es etwa in der Vorankündigung der GegenUni für das Seminar „Spenglers Methodik. Das Geschichtsdenken Oswald Spenglers“ (Wintersemester 2021/22):

„Der wohl wichtigste Geschichtsdenker des frühen 20. Jahrhunderts [i. e. Spengler] war ein zentraler Akteur der Konservativen Revolution und zugleich bis zu seinem Lebensende ein Gegner des Nationalsozialismus, dessen Antisemitismus er als ,primitiv‘ empfand und ablehnte“.

Den in sich „widersprüchlichen Begriff“ Konservative Revolution, der für die Neue Rechte eine bedeutende Bezugsgröße ist, erläutert Mario Alexander Müller (IB) wie folgt:
„Die Konservative Revolution kann als Antwort auf die Französische Revolution 1789 verstanden werden, deren geistiges Erbe von bedingungsloser Gleichheit, falschem Fortschrittsglauben und allmächtiger Vernunft sie ablehnte. Dem materialistisch auf das Ich ausgerichteten Liberalismus (wie auch dem Marxismus) warf sie vor, Kulturen abzuschaffen, Vaterland und Religion zu zerstören und die Gemeinschaft durch eine entfremdete Gemeinschaft zu ersetzen. Deshalb deuteten ihre Denker die liberale Ideologie als Ausdruck der Dekadenz – der abnehmenden Lebenskraft“.

Abgesehen davon, dass die strikte Kategorisierung Spenglers als „Gegner des Nationalsozialismus“ undifferenziert bzw. falsch ist, misst Martin Sellner ausgerechnet einer nationalsozialistischen Organisation eine Referenz- und Vorbildfunktion bei. Außerdem weist er dem NSDStB und damit insgesamt der völkischen und antisemitischen Studentenbewegung in der Weimarer Republik eine wichtige Rolle bei der „Rebellion“ zu, die selbst in der heutigen Politik- und Geschichtswissenschaft häufig nur am Rande behandelt wird. So spricht der Politikwissenschaftler Julian Schenke in seiner 2020 erschienenen Dissertation „Student und Demokratie“ von einer „deutlich geringeren wissenschaftlichen Aufmerksamkeit“ und urteilt:

„Nichts an dieser Bewegung kann heute rühmlich erscheinen. Weder hat sie für Fortschritt und Demokratie optiert noch den Weg für kulturelle Liberalisierungsprozesse geebnet. Die unverkennbare Sprache des aggressiven, auf Erhalt kaiserzeitlicher Privilegien und Abbau der akademischen Stellenkonkurrenz schielenden Ressentiments, letztlich der rohen physischen Gewalt, taugt nicht zur Romantisierung oder Heroisierung“.

So verdeutlicht der Historiker Alexander Graf (2012) am Beispiel der Universitätsstadt Marburg, worin genau die Funktion des NSDStB bzw. dessen Verflechtung mit den gewalttätigen Straßenkämpfern der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) bestand:

„Der Erfolg der NSDAP in der kleinen Universitätsstadt war durch die aktive Mithilfe der Studenten in den Parteiorganisationen mehr als nur begünstig[t] [...]. So stellen sie Redner, SA-Führer, den Saalschutz und ihren Eifer der ,nationalsozialistischen Idee‘ zur Verfügung und tragen so maßgeblich zur Dominanz der Nationalsozialisten vor Ort bei“.

Sellner übergeht in seinem Beitrag jedoch stillschweigend das Gewaltpotenzial des akademischen NSDStB, etwa dessen „Hetze gegen jüdische Kommilitonen“ während der Weimarer Republik an der Friedrich Wilhelms Universität in Berlin oder dessen führende Rolle bei den Bücherverbrennungen im Mai 1933, die „in Deutschland zumeist mit Gleichgültigkeit aufgenommen“ (Burkhard Asmuss, 2015) wurden.

Sellner beklagt dagegen den „Verrat der rechten Intelligenz“ nach dem „unausweichlichen Untergang des NS, der die Ideen der Konservativen Revolution verzerrt und entstellt hatte“. Seit 1968 habe sich die „rechte Intelligenz“ mehr für ihr „privates materielles Fortkommen“ als für politische Arbeit interessiert. „Rechte Akademiker“ seien heutzutage lediglich „leistungsfähige Muskelfasern, agile Makrophagen und scharfe Sehzellen,“ die das „System“ erhielten und stützten:

„Zu ihrem Entsetzen müssen sie [i. e. die rechten Akademiker] nun miterleben, wie die damals verlachten linken Dauerstudenten [der 68er-Bewegung] heute ihre Kinder unterrichten, ihre Zeitungen schreiben, ihr Fernsehprogramm erstellen und bestimmen, wie sie zu sprechen und zu denken haben“.

Zusammen mit dem NSDStB bzw. der NSDAP befindet sich Sellner mit dieser Äußerung in einem Argumentationsrahmen: Am 14. Januar 1929 hielt Hans Severus Ziegler, stellvertretender NSDAP-Gauleiter des Gaus Thüringen, beim NSDStB in einem Hörsaal der Marburger Universität einen Vortrag über die „,Bolschewisierung der deutschen Kultur‘“und wandte sich gegen die angeblich linke und jüdische kulturelle Vorherrschaft. Ebenso sprach Reichskanzler Franz von Papen, einer der Wegbereiter Hitlers und später dessen Vizekanzler, in seiner Regierungserklärung vom 4. Juni 1932 von einer Entwicklung, der in „letzter Stunde Einhalt geboten werden“ müsse, nämlich von der

moralischen Zermürbung des deutschen Volkes, verschärft durch den unseligen gemeinschaftsfeindlichen Klassenkampf und vergrößert durch den Kulturbolschewismus, der wie ein fressendes Gift die besten sittlichen Grundlagen der Nation zu vernichten droht“.

Auch Sellner sieht sich von der Zeit bedrängt und glaubt, dass nur ein „knapp bemessenes Zeitfenster“ für eine „Strategie der Reconquista (die metapolitische Eroberung der politischen Macht)“ zur Verfügung stehe. Das hätten „Ibiza, Trump und Salvini“ gelehrt:

„Bei feindlicher Lufthoheit wird jede rechtspopulistische Partei, die eine Protestwoge an die Macht gespült hat, durch ständigen ,Beschuß‘ von oben gelähmt“ (Schreibweise wie im Original).

Daraus zieht Sellner den Schluss:

„Solange eine rechtspopulistische Partei nicht zumindest die Hälfte ihres Ergebnisses in der Gesamtbevölkerung auch an den Unis erreichen kann, wird sie ihre Ziele kaum durchsetzen könne[n]. [...] Die Rückeroberung der Uni ist gleichbedeutend mit der Rückeroberung der Geisteswissenschaften. Wenn nur ein kleiner Teil der rechten Akademiker, die auch heute noch die Universität absolvieren, in Fächern wie Journalismus, Philosophie, Politikwissenschaften, Mediengestaltung, Pädagogik, Soziologie und Geschichte gelenkt würden, würde sich das metapolitische Potenzial des rechten Lagers vervielfachen“.

Auch der NSDStB definierte sich in diesem Sinne als Scharnier zwischen der NSDAP und dem „Volk“. So hieß es am 20. Februar 1926 im „Aufruf an alle nationalsozialistischen Studenten‘“, dass es wichtig sei, die „fast völlig verlernt[e]“ „Fühlung zum Volk“ im Sinne und zum Nutzen des Nationalsozialismus wiederherzustellen. Der Historiker Daniel Siemens (2021) betont:

„Mithilfe solcher Vorfeldorganisationen gelang es der NSDAP schon vor 1933, Teilbereiche der deutschen Gesellschaft zu durchdringen. Lehrer als Multiplikatoren von Fachwissen und gesellschaftspolitischen Ansichten sowie Studierende als künftige gesellschaftliche Elite waren dabei wichtige Gruppen, die sowohl zur politischen Mobilisierung der jüngeren Deutschen als auch zur Verbreitung der NS-Ideologie insgesamt besonders geeignet waren“.

Die Wahlerfolge des NSDStB in den Studentenparlamenten der Weimarer Republik dienen Sellner offensichtlich als Blaupause für den nach seiner Meinung von der Neuen Rechten in unserer Gegenwart einzuschlagenden „Weg der Rückeroberung der Uni“, den er als „metapolitische Reconquista“ bezeichnet. Dabei wurde der Begriff „GegenUni“ bewusst als Kontrapunkt zu dem Institut für Sozialforschung (IfS) der Frankfurter Schule gewählt.

Für den IB-Angehörigen Mario Alexander Müller hat der Begriff, unter dem allgemein die „Wiedereroberung“ der iberischen Halbinsel, die sich seit dem 8. Jahrhundert bis 1492 unter arabischer bzw. muslimischer Herrschaft befand, folgende Bedeutung:
„Indem die Identitäre Bewegung die Reconquista zu ihrem Leitbild erklärt, stellt sie sich angesichts der erneuten Bedrohung durch den großen Austausch und einen aggressiv-raumgreifenden Islam in die Erbfolge der Verteidiger Europas. [...] Es dringen nicht mehr fremden Heere, sondern vorrangig gewöhnliche Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa ein. [...] Wenn wir also von Reconquista sprechen, drücken wir metaphorisch unsere Bereitschaft aus, unser Volk, unsere Kultur und unsere Lebensart zu verteidigen. Diese Reconquista des 21. Jahrhunderts allerdings muß zuallererst eine geistige sein: die Wiedergewinnung der Herzen und Köpfe der Europäer und das Erstreiten einer patriotischen Hegemonie“. (Schreibweise wie im Original.)

„Studienangebot“ der GegenUni

Das im Internet aufrufbare Angebot der virtuellen GegenUni – „reale“ Präsenzveranstaltungen sind bislang nicht bekannt – nennt für das „Sommersemester 2021“ und das „Wintersemester 2021/22“ drei Veranstaltungsreihen: zwölf Lesekreise, fünf Seminare und drei Gastvorlesungen. In bewusstem Antagonismus zu der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule zielt zum Beispiel der Lesekreis „Alain de Benoist – Kritik der Menschenrechte“ auf „Einsteiger ins neurechte Denken“ und beschäftigt sich mit dem 2004 erschienenen gleichnamigen Buch dieses maßgeblichen Vordenkers der (französischen) Neuen Rechten:

„In meisterhafter Schärfe und mit der gesamten Kraft seiner akademischen Bildung greift De Benoist hier den westlichen Universalismus aus neuester Perspektive an. Die Menschenrechte werden als das erkannt, was sie sind: eine voraussetzungslose, apodiktische, Setzung mit geradezu totalitären, hochmoralischem Wahrheitsanspruch“. (Schreibweise wie im Original.)

Das 1923 gegründete Institut für Sozialforschung (IfS) durchlief, wie es auf seiner Internetseite heißt, seit 1930 einen
„tiefgreifenden Wandel hin zu einem Programm, das später ,Kritische Theorie der Frankfurter Schule‘ heißen wird. Es waren nicht mehr vorrangig die ökonomischen Prozesse, die als Grundlage des sozialen Lebens untersucht werden sollten, vielmehr wurde die Gesellschaft in all ihren Sphären zum interdisziplinären Forschungsgegenstand“.
Dabei geht es – im Unterschied zu dem völkisch-kulturell und antidemokratischen Verständnis der Konservativen Revolution und des Rechtsextremismus – um die individuelle Selbstbestimmung des Menschen und das Herausbilden von Kritikfähigkeit, die ihn in die Lage versetzen sollen, bisherige Maxime und Vorstellungen als falsch zu entlarven.

Das Seminar „Visuelle Kommunikation. Gestaltung, Bilder, Wirkung“ setzt sich mit der Frage auseinander, wie von der Neuen Rechten propagierte Inhalte am effektivsten in die Bevölkerung hineingetragen und dort bleibend verankert werden können:

„Wahlprogramme gewinnen keine Wahlen und Manifeste allein haben noch keine Revolution ausgelöst. Zu politischer Wirksamkeit gehören Bilder, Geschichten, Vorstellungswelten und visuelle Muster und Symbole. [...] Wir zeigen auf wie gute und wirksame Visualität in politischen Kontexten eingesetzt wird und wie diese sich in strategische Kommunikationsinstrumente einfügt“. (Schreibweise wie im Original.)

Darüber hinaus führte die GegenUni am 29. August 2021 eine virtuelle Diskussionsveranstaltung mit einem von ihr als „langjährige[n] IB-Anwalt“ bezeichneten „AfD-Ratsmitglied“ sowie mit einem weiteren AfD-Politiker durch. Vor dem Hintergrund des Abzugs der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan lautete das Thema: „Asyl heute: Ortskräfte aufnehmen?“ Stimmten die Teilnehmer bei dieser Frage nicht überein, so „waren sich beide Diskutanten“ laut der GegenUni darin einig, was die allgemeine „Problematik der massiven globalen Flucht- und Migrationsströme der Gegenwart“ betraf:

„Das propagierte Ziel einer konservativen Oppositionspartei muss in einer restriktiven Migrationspolitik liegen, für die das symbolische Schlagwort ,Festung Europa‘ repräsentativ ist ‒ mit der klaren Botschaft an die Welt: Wir helfen vor Ort, aber wir können keine weiteren Migrationsströme aufnehmen“.

Auch die IB beruft sich auf den Begriff „Festung Europa“, der bereits während des Nationalsozialismus verwendet wurde, wobei die nationalsozialistische Europa-Konzeption antiliberal, antidemokratisch und antipluralistisch – insgesamt von der deutschen Gewaltherrschaft dominiert – war, entsprechend verbreitet die IB Aufkleber mit der Aufschrift „Festung Europa[.] Macht die Grenzen dicht!“ Vergleichbar mit der häufig pathetischen Sprache des Nationalsozialismus heißt es bei Mario Alexander Müller (IB) unter dem Stichwort „Europa“:
„Europa ist das Land der Europäer. Wie unsere Ahnen sind auch wir mit den Landschaften unserer Heimat verwachsen. Ihre Wälder rauschen in unserer Sprache, ihre Gebirge ragen in unsere Architektur, ihre Gezeiten spiegeln sich auf unserer Haut. Wir sind in Europa zu Hause und Europa lebt durch uns“.
Im Kapitel „Großer Austausch“ behauptet Müller, dass die „ethnisch deutsche Bevölkerung [...] in den kommenden Jahrzehnten verdrängt“ werde, „ausgetauscht gegen raum- und kulturfremde Zuwanderer“:
„In jedem klassischen Einwanderungsland [...] leben die Ureinwohner heute marginalisiert am Rande der Gesellschaft oder gleich in Reservaten. Wir sind die letzte Generation, die dieses Schicksal noch aufhalten kann“.

Lagerwechsel: Von „links“ nach „rechts“ 

Der Lesekreis „Hannes Hofbauer – Kritik der Migration“ enthält die Ankündigung, sich mit dem 2018 erschienenen Buch des österreichischen Publizisten und Verlegers Hannes Hofbauer „Kritik der Migration. Wer profitiert und wer verliert“ zu beschäftigen:

„Was Wagenknecht und andere Renegaten der liberalen, multikulturalistischen Linken gelegentlich andeuten, bringt der Autor klar auf den Punkt: Massenmigration und globale Mobilmachung des Menschen als ,homo migrans‘ sind auch mit einem orthodox linken Gesellschaftsbild unvereinbar“.

Dieses Zitat lässt erahnen, dass es eine Schnittmenge zwischen der GegenUni und ihrem politischen Gegenüber gibt. Tatsächlich veröffentlichte die Hochschulgruppe Linke Liste (LiLi) auf ihrer Facebook-Seite am 24. Juni 2021 einen Beitrag, worin sie eingestand, dass der Betreiber der GegenUni früher Mitglied in DIE.LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (DIE.LINKE.SDS) und später auch bei ihr selbst gewesen sei. Wegen seiner „reaktionären Ansichten“ habe man den Betreiber der GegenUni im März 2020 ausgeschlossen. Die LiLi stellte klar, dass der GegenUni-Betreiber „nicht mehr nur ein obskurer Akteur ist, mit dem wir nicht mehr kooperieren, sondern ein politischer Klassenfeind“.

Dass ein Angehöriger der linksextremistischen Szene ins gegnerische Lager wechselt, ist für Linksextremisten angesichts des für sie eminent wichtigen Themas „Antifaschismus“ („Kampf gegen Rechts“) sicherlich eine Provokation. Allerdings ist diese „Grenzüberschreitung“, wie der Fall Horst Mahler als eines der prominentesten Beispiele dieses Phänomens zeigt, keineswegs singulär bzw. neu. Diese für Linksextremisten offensichtliche Brüskierung erreicht darüber hinaus eine noch größere Dimension, da der Begriff „GegenUni“ eigentlich aus ihrem Vokabular bzw. Spektrum stammt. So hieß es am 29. Oktober 2012 auf einer Internetseite über das Institut für Vergleichende Irrelevanz (IvI), das bis zu seiner polizeilichen Räumung (2013) von der autonomen Szene unterstützt wurde:

„Die ,Gegenuni‘ funktioniert [...] als eine Art ,bessere Uni‘, die sich fast ausnahmslos aus akademischem Personal rekrutiert, das akademische Inhalte diskutiert. Anspruch dabei ist jedoch, Formen der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Themen gemeinsam zu erarbeiten, die eine größtmögliche Teilhabe zum Ziel haben. [...] Mit der Gegenuni wollen wir einen Beitrag zur Kritik leisten und strukturelle Hintergründe offenlegen und hinterfragen“.

Das Ziel: vom „rechten Exil“ zur „rechten Handlungsfähigkeit an den Hochschulen“ 

„Der Weg zur Rückeroberung der Uni“ führt laut Martin Sellner in seinem Sezession-Artikel „zuerst ins Exil der Gegenuniversität“, die in einer ersten Phase als „digitale Lernplattform“ etabliert werden soll. Ein „wachsendes Angebot an Seminaren und Lesekreisen zu rechten Themen“ soll in „Livestreams nach einem festen Lehrplan“ oder „nach eigener Geschwindigkeit digital durchgearbeitet werden“. Durch ein kostengünstiges, aberkostenpflichtiges Angebot solle dem akademischen Leben in „Unsicherheit und Existenzängsten“ entgegengewirkt werden. Damit sei ein „kleiner Anreiz für junge Rechte“ verbunden, einen „geisteswissenschaftlich-metapolitischen Lebensweg“ einzuschlagen:

„Das langfristige und ambitionierte Ziel des Projekts ist die Organisation und Vernetzung der eingetragenen Studenten, um eine rechte Handlungsfähigkeit an den Hochschulen zu erreichen. [...] So kann in weiterer Zukunft sogar ein eigenes Curriculum und ein eigenes, neurechtes ,Diplom‘ entstehen. Das würde in der jetzigen Lage natürlich von keiner Uni anerkannt, doch die Lage kann sich ja ändern…“.

Misslinge es, das „Ausbluten des akademischen Potentials auf der politischen Rechten in metapolitisch einflußschwache Berufsfelder zu stoppen“, bleibe, so Sellner,

„der geistige Raum der Nation fest in der Hand des Gegners. Ändert sich daran nichts, wird – das ist meine Befürchtung – jede populistische Protestwelle, von Trump über Strache und Le Pen bis hin zu Zemmour, folgenlos brechen“.

Von der Neuen Rechten und der GegenUni ausgehende Gefahren 

„Intellektualisierungsbemühungen in der rechtsextremen Szene haben eine lange Tradition. Sie sind aber von wenig Erfolg gekrönt und führen ein Schattendasein“. So lautete 2008 der möglicherweise damals beruhigende Befund des von der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichen Artikels „Braune Theorieschulen im Umfeld der NPD“. Ebenso urteilte das BfV in seinem Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2008, dass es keiner der im Spektrum des intellektuellen Rechtsextremismus zu verortenden Gruppierungen gelungen sei,

„auch nur ansatzweise ihr Ideal [zu] erreichen, durch Bildung, Schulung oder Publikationen gesellschaftliche Diskurse zu bestimmen oder an öffentlichen Diskussionen mitzuwirken“.

Heute spricht sogar Resignation aus der Analyse Michael Brücks, eines Angehörigen der Partei DIE RECHTE, als er während eines auf YouTube veröffentlichten Livestreams (datiert vom 10. November 2021) im Gespräch mit Frank Franz, dem NPD-Bundesparteivorsitzenden, sagte: Die „Rechte“ brauche einen „radikalen Umbruch“; man müsse einen Schlussstrich unter die Politik der letzten zehn Jahre, in denen man nur „Verwaltung betrieben“ habe, ziehen. Ein maßgeblicher Grund für den Niedergang liege darin, dass sich viele Leute nunmehr als Teil eines „Mischlagers“ betrachteten, das von der „Mitte der AfD bis nach ganz weit außen“ reiche. Auch Martin Sellner merkt in seinem Sezession-Artikel selbstkritisch an, dass sich die „Rechte erst außerhalb der Hochschulen organisieren und konsolidieren [müsse], bevor sie sich an die Rückeroberung machen“ könne.

Tatsächlich stellt der Rechtsextremismus/-terrorismus zurzeit die größte Bedrohungslage dar; das „rechte Lager“ ist keineswegs ungefestigt, sodass sich rechtsextremistische Bestrebungen rascher, als angeblich selbst von dessen Protagonisten erwartet, entfalten können. Dies offenbart ein Seitenblick ins europäische Ausland, aber auch ein direkter Blick auf die Dynamik, die in Deutschland zum Beispiel dem (mitunter extremistischen) Protestgeschehen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie innewohnt. Im Lager der „Corona-Leugner“ sind krude Verschwörungsnarrative weit verbreitet, es herrscht ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber gesellschaftlichen Institutionen und etablierten Medien vor, die Grenze zum rechtsextremistischen Spektrum wird immer durchlässiger. Außerdem haben sich längst gefährliche Unebenheiten und Risse in unser gesellschaftlich-politisches Fundament eingeschlichen. So wurde die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgegebene Studie „Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19“ im April 2019 – also vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie – mit folgendem Satz angekündigt:

„Deutschland ist in Unruhe. Hass, Abschottung und Gewalt stehen Solidarität und zivilgesellschaftlichem Engagement gegenüber. Rechtsextreme Gruppen treten öffentlichkeitswirksam an der Seite ,normaler‘ Bürgerinnen und Bürger auf, rechtspopulistische Forderungen und Diskurse erhalten scheinbar immer mehr Raum in Politik und Debatte“.

Blickt man noch weiter bis auf das Jahr 2015 zurück, in dem mit dem sogenannten Flügel ein einflussreicher mitglieder- bzw. anhängerstarker rechtsextremistischer Personenzusammenschluss innerhalb der AfD entstand, verstärkt sich dieser Eindruck: Beeinflusst von rechtsextremistischen Akteuren, sind Sprache und Denken, somit das Handeln von Gruppierungen, Parteien und Einzelpersonen, seit Jahren in Teilen der Gesellschaft auf dem Weg in die Verfassungsfeindlichkeit. Es bedarf aus Sicht der Neuen Rechten bzw. der GegenUni nunmehr einer „einheitlichen Weltsicht und einer verbindlichen Theorie“, um dieser Bewegung einen gemeinsamen Nenner und folglich einen noch größeren – theoretisch begründeten – Impetus zu verschaffen.

Rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse, das heißt vor allem Parteien, haben es zwar bislang nicht vermocht, entsprechende Vorfeldorganisationen an den Hochschulen zu etablieren, Einzelpersonen sind aber sehr wohl als Studierende und Dozenten präsent. So erklärte ein an einer Universität lehrender Wissenschaftler, der dem aufgelösten Flügel zuzurechnen ist, gegenüber verschiedenen Medien im Juli 2021: „,Uns fehlt das kulturelle Selbstbewusstsein‘“. Ebendies gilt es aus Sicht der Neuen Rechten im rechtsextremistischen Sinne herzustellen.

Im Unterschied zu etlichen anderen extremistischen/terroristischen Gefährdungen geht von der Neuen Rechten (und damit auch der GegenUni) keine plötzlich virulente, das heißt unmittelbar spürbare Gefahr aus. Mehr denn je versucht die Neue Rechte aber, in einem seit Jahren „unruhigen“ Land rechtsextremistische Inhalte und Begriffe in die demokratische Mehrheitsgesellschaft zu transportieren und dort zu verwurzeln, so etwa, wenn der Verlag Antaios verschiedentlich auf der Frankfurter Buchmesse zugegen war. Ziel der Neuen Rechten bzw. der GegenUni ist es also, ähnlich wie es der NSDAP-Funktionär Walter Groß 1933 im Rahmen der Bücherverbrennungen formulierte, einen möglicherweise lange dauernden „geistigen und seelischen Umbildungsprozeß“ anzustoßen, um schließlich die „kulturelle Hegemonie“ und damit die politische Macht zu erringen.

Zu den Instrumentarien dieses schleichenden Prozesses gehört es, wie Martin Sellner bereits im Mai 2019 in der Zeitschrift Sezession ausführte, „durch gezielte Beeinflussung und Infoarbeit“ den „Rand des Sagbaren“ (das „Overton-Fenster“) nach „rechts“ zu verschieben. Dies betrifft etwa Begriffe/Inhalte wie „Ethnopluralismus“, „Reconquista“, „Jugend ohne Migrationshintergrund“, „Konservative Revolution“, „Festung Europa“, „Grenzen schließen“ und „Großer Austausch“, die in den allgemeinen Sprachgebrauch und das Denken der demokratischen Mehrheitsgesellschaft einsickern und sich dort festsetzen sollen. In dem Beitrag „Was fehlt: ein neurechtes Kontinuum“ kritisiert Sellner, dass sich das Fenster des Sagbaren ständig nach „links“ bewege und fordert, eine gegenläufige Bewegung einzuleiten:

„Wenn eine These in den Brennpunkt des ,Aktuellen‘ gerät und zur akzeptierten ,gesellschaftlichen Frage‘ wird, liegt ihre politische Umsetzung nicht mehr fern. Meinungen, die aus dem Vertretbarkeitsrahmen fallen, drohen hingegen brutale Konsequenzen. Sie gelten als unsagbar, werden emotional mit ,Unreinheit‘, ,Krankheit‘ und moralischer Verwerflichkeit assoziiert. Die Vertreter dieser Meinung werden folglich sozialer Ausgrenzung, wirtschaftlichen Boykotten, Gewalt und Terror ausgesetzt. Führt das ,Herausfallen‘ aus dem Overton-Fenster und dieser Druck nicht zu einem Verschwinden dieser Meinungen und ihrer Vertreter, folgen in der Regel Kriminalisierung und juristische Verfolgung. Das Bestreben des kulturellen Hegemon ist es, diese ,unsagbaren‘ Ideen und Gruppen in diesem Zustand zu halten, um das Zentrum zu stabilisieren“.

Insgesamt ist die Gründung der GegenUni die logische Konsequenz des bislang nur schriftlich in zahlreichen Publikationen fixierten Konzepts der „metapolitischen Reconquista“.

Die Historiker Eberhard Kolk und Dirk Schumann (2013) bewerten die eklatanten Stimmengewinne der Nationalsozialisten bei den AStA-Wahlen seit dem Wintersemester 1928/29 – also deutlich vor dem großen Erfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl im September 1930 – als fatales Fanal:

„Die in diesen Wahlresultaten zum Ausdruck kommende Abwendung eines großen Teils der akademischen Jugend von der Weimarer Demokratie signalisierte bereits vor 1930 einen bedrohlichen psychologischen Machtschwund des Staates von Weimar“.

Mit Blick auf unsere Gegenwart muss es daher sehr ernst genommen werden, dass es Sellner und anderen Vertretern der Neuen Rechten seit der in dem Sezession-Artikel „Was fehlt: ein neurechtes Kontinuum“ (2019) vorgenommenen Standortbestimmung gelungen ist, binnen zweier Jahre einen solchen strukturierten „Zusammenhang“ in Form der GegenUni zu etablieren. Nach wie vor gilt, was 1947 rückblickend der Philologe Victor Klemperer vor dem Hintergrund seiner Alltagserfahrungen im Nationalsozialismus geschrieben hatte:

Worte können sein wie winzige Arsendosen; sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da“.

Stand: 14.04.2022

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