Das Podium des 22. Herbstgesprächs 2021 im HMdIS

22. Herbstgespräch - Rückblick

Das 22. Herbstgespräch des LfV Hessen im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport widmete sich am 27. Oktober 2021 dem Thema „Feindbild: Staat - Radikalisierung und Verschwörungsglaube in pandemischen Zeiten“.

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Der tödliche Schuss auf einen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein im September 2021 hat verdeutlicht, dass sich die Wut über staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der COVID 19-Pandemie in schwersten Gewalttaten entladen kann. Teile der gegen die staatlichen „Corona-Maßnahmen“ gerichteten Protestszene radikalisierten sich im Laufe der Pandemie erkennbar, die Agitation gegen Staat und Demokratie gewann an Schärfe. Rechtsextremisten, „Reichsbürger“ und andere Verfassungsfeinde instrumentalisierten die Kundgebungen gegen die Maßnahmen zur Pandemie-Eindämmung, um ein „Klima des Widerstands“ zu befördern und den Staat, unsere Demokratie und deren Repräsentanten verächtlich zu machen.

Über die Frage, was diese Entwicklungen für unsere Gesellschaft und Sicherheitsbehörden bedeuten und welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, diskutierten unter der Moderation von Thomas Kreutzmann (Journalist, Autor) die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Herbstgesprächs 2021: Dr. Liane Bednarz (Publizistin), Justus Bender (Journalist, FAZ), Michael Niemeier (Vizepräsident Bundesamt für Verfassungsschutz) und Florian Schroeder (Kabarettist, Autor).

„Die Menschenwürde wird täglich angetastet“

Die 22. Auflage des Herbstgesprächs, mit dem das LfV Hessen für verfassungsschutzrelevante Themen sensibilisieren möchte, musste wegen der andauernden Pandemie größtenteils als Streaming-Veranstaltung stattfinden; im Konferenzsaal des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport konnte ein Kreis von etwa 60 Personen anwesend sein. LfV-Präsident Robert Schäfer sagte in seiner Einführung, dass Prinzipien wie Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Laufe der Pandemie in zunehmendem Maße attackiert worden seien: „Die Menschenwürde ist laut unserer Verfassung unantastbar - und doch wird sie täglich angetastet.“

Der LfV-Präsident betonte, dass Rechtsextremisten und „Reichsbürger“ während der Pandemie versucht hätten, die Pandemie für ihre verfassungsfeindlichen Bestrebungen zu nutzen („vom Rechtsextremismus geht derzeit die größte Gefahr aus“); es hätten aber auch Personen gegen unsere freiheitliche Demokratie agitiert, die mit Extremismus zuvor keine Berührungspunkte hatten. Der Verfassungsschutz habe sich diesem neuen Phänomen „differenziert angenähert“ und die Voraussetzungen für die Beobachtung von demokratiefeindlicher und sicherheitsgefährdender Delegitimierung des Staates geschaffen. Angesichts der dynamischen Entwicklung seit Beginn der Pandemie sei das „ein wichtiger, ein unerlässlicher Schritt“ gewesen.

Robert Schäfer warnte vor dem „Erstarken des Antisemitismus in Deutschland“, der sich auch im Zusammenhang mit den „Corona-Protesten“ gezeigt habe und ihn persönlich seit längerem sehr bedrücke: Dass antisemitische Verschwörungserzählungen wie das Narrativ von einer angeblichen „jüdischen Weltverschwörung“ im Zusammenhang der „Corona-Proteste“ wieder verstärkt verbreitet worden seien, dürfe keinesfalls achselzuckend hingenommen werden, sagte der LfV Präsident; stattdessen müsse man es „klipp und klar und als das benennen, was es ist: nämlich als Antisemitismus, der jüdische Menschen zu Feinden stilisieren soll“.

Verschwörungstheorien als "Radikalisierungsbeschleuniger"

Hessens Innenminister Peter Beuth betonte anlässlich des Herbstgesprächs, dass es „völlig legitim und Ausdruck unserer freien Gesellschaft“ sei, staatliches Handeln zu hinterfragen. „Querdenker“ und „Corona-Leugner“ verbreiteten aber auch wirre Verschwörungsideologien und riefen zum Widerstand gegen Corona-Regeln auf. Die teils aggressive Agitation könne „wie ein Radikalisierungsbeschleuniger“ wirken, sagte Beuth. Der feige Mord von Idar-Oberstein habe gezeigt, dass aus der heterogenen Szene heraus schwerste Straftaten möglich seien. Bürgerinnen und Bürger, die Hassreden oder Gewaltaufrufe wahrnehmen, rief der Minister auf, sich umgehend an die Sicherheitsbehörden oder an die Meldestelle hessengegenhetze.de zu wenden.

Das Phänomen der „Filterblasen“ im Netz, die ihrer abgeschotteten Klientel einfache Antworten auf komplexe Fragen präsentierten, sei lange vor der Corona-Krise bekannt gewesen, rief der Innenminister in Erinnerung. Es sei aber „alarmierend“, in welcher Geschwindigkeit sich in der virtuellen Welt unserer pandemischen Gegenwart neue Filterblasen gebildet und innerhalb kürzester Zeit treue Abonnenten für die wahnwitzigsten Interpretationen gefunden hätten. Gerade in Hessen wisse man aufgrund der Ereignisse der vergangenen Jahre, dass sich so Radikalisierungen verschärfen und im schlimmsten Fall in Form schwerster Gewalttaten manifestieren könnten.

Verfassungsschutz ist "ein Frühwarnsystem, aber keine Gesinnungspolizei"

In der Podiumsdiskussion, die sich an die Ministerrede anschloss, sagte der Kabarettist und Autor Florian Schröder, dass es in der Szene der Kritiker der „Corona-Maßnahmen“ kein geschlossenes, ideologisches Weltbild gebe. Was die Mitglieder dieser Szene trotz aller Unterschiede eine, sei das große, gemeinsame Ziel, den Staat „als korrumpiert, als nicht heilbar und als ausschließlich zerstörenswert“ zu brandmarken und letztlich zu zerstören. FAZ-Journalist Justus Bender verwies auf die „ungeheure Geschwindigkeit, mit der Radikalisierung heutzutage stattfindet“ und plädierte dafür, dass Verfassungsschutz und Gesellschaft im Fall neuer Entwicklungen wie den während der Pandemie entstandenen Protesten schon „sehr früh“ hinschauen.

BfV-Vizepräsident Michael Niemeier wies darauf hin, dass der Verfassungsschutz „zwar ein Frühwarnsystem, aber keine Gesinnungspolizei“ sei: „Wir sind an Recht und Gesetz gebunden und die Eingriffsschwellen, insbesondere für den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, sind relativ hoch.“ Vor dem Hintergrund, dass die Meinungsfreiheit ein hohes Gut sei, habe - ironisierend gesagt - auch erst einmal „jeder sein Recht auf seinen eigenen Aluhut“. Problematisch werde es dann, wenn eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung entstehe.

Publizistin Dr. Liane Bednarz führte aus, dass sie eine „gezielte Verächtlichmachung des Staates“ und Vergleiche unserer liberalen Demokratie mit einer Diktatur schon seit der Zeit der Eurokrise wahrnehme und auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise eine weitere Verschärfung festgestellt habe. Es gebe eine Art „große, rechte Widerstandserzählung“, an die auch der Begriff „Corona-Diktatur“ anschlussfähig sei. Diese Widerstandserzählung vereine verschiedene Milieus, Unterschiede beständen lediglich in der Wahl der Mittel, die jeweils für den Widerstand gewählt werden: Die gravierendste Stufe, so sagte Frau Dr. Bednarz, sei gewissermaßen der Rechtsterrorismus.